Campus-Camps: Kampfansage oder Friedensbewegung: Hassen alle Studenten bei Pro-Palästina-Protesten Israel?


Die Pro-Palästina-Proteste an Universitäten in den USA und Europa halten Behörden und Hochschulleitungen für eine Bedrohung. Ein Protestforscher spricht allerdings von einer neuen Friedensbewegung. Doch das fällt schwer zu glauben.

Es geht um Ungerechtigkeiten.So sehen es jedenfalls die Aktivisten, die erst mit Sitzstreiks, dann mit Blockaden und einem Protestcamp den Alltag an der Eliteuniversität Science Po im Herzen von Paris aufmischen. Vor einem Eingang türmt sich ein Berg aus Mülleimern, Fahrrädern und Paletten. An Fensterrahmen hängen schwarz, weiß-grün-rote Flaggen, aus Fenstern lehnen sich Studierende und grölen Parolen auf ein kleines Meer aus Palästinensertüchern unter ihnen. “Free, free, free Palestine”, schallt es über den Hof.

Der Ruf ist Teil des höchst umstrittenen Slogans: “From the river to the sea, Palestine will be free”, den zuletzt vor allem Elitestudenten der Columbia University in New York skandierten. Die Universität gehörte zu den ersten Einrichtungen, an denen Polizisten Protestcamps gegen den Krieg zwischen Israel und der Hamas räumen, damit der Aufruhr nicht weiter eskaliert. Doch da war der Funke schon übergesprungen. Längst finden die Pro-Palästina-Proteste an anderen US-Universitäten statt und treiben auch europäische Hochschulen in Frankreich und Deutschland an ihre Grenzen. STERN PAID Nahost-Konflikt Zwei Mütter kämpfen um Versöhnung 15.46

Die Studentenproteste sind angesichts der aufgeheizten politischen Lage brandgefährlich, glauben viele. Nicht nur, weil sie das Massaker der Hamas vom 7. Oktober verharmlosen, Israel einen Genozid im Gazastreifen vorwerfen und das Land am liebsten gleich von der Landkarte tilgen würden. So zumindest interpretieren viele die Parole “From the river to the sea”. An Orten mit offener Debattenkultur würde plötzlich eine ängstliche Atmosphäre herrschen, berichten Studenten und Dozenten. Viele fragen sich: Was darf man noch sagen, ohne zur Zielscheibe auf dem Campus zu werden?

Gewalt – aber gegen wen eigentlich?

“Wir diskutieren in Deutschland stark darüber, welche Worte wir verwenden dürfen, um diesen Konflikt zu beschreiben, anstatt die Beweggründe dahinter zu verstehen”, findet dagegen Jannis Grimm. Der Politikwissenschaftler beschäftigt sich seit Jahren mit Protesten, seine Dissertation schrieb er über politische Gewalt und staatliche Unterdrückung in Ägypten nach dem Militärputsch 2013. In den Studentenprotesten sieht der Protestforscher keine Gefahr, sondern einen demokratischen Ausdruck von Meinungsfreiheit. Im Onlinedienst X (vormals Twitter) positioniert er sich regelmäßig zum Konflikt zwischen Israel und dem Gazastreifen; pro-palästinensische Posts dominieren. Im stern-Gespräch verteidigt er deshalb nicht nur die Demonstranten von der FU Berlin – jener Uni, die im Februar wegen eines antisemitischen Vorfalls im Zusammenhang mit dem Krieg in Gaza in die Schlagzeilen geriet. Grimm forscht und lehrt dort selbst. 

An dem Slogan “Free Palestine” findet er nichts Anstößiges, weil dieser auch von extremen israelischen Gruppen und Juden aufgegriffen werde, die einen jüdischen Staat vom Euphrat bis zum Mittelmeer anstreben. Und auch unter Friedenaktivisten sei der Slogan verbreitet, um ein geeintes Land mit mehreren Ethnien und gleichen Rechten für alle zu fordern. In den vermeintlichen Pro-Palästina-Protesten sieht Grimm deshalb vor allem eine Friedensbewegung wie zu Zeiten des Vietnam- oder Irakkrieges. Neu sei das Ausmaß der Gewalt, mit dem die Proteste eingeschränkt würden.

Bloß: Wie passt das mit Berichten über pro-palästinensische Studenten zusammen, dieisraelische Kommilitonen zusammenschlagen oder Podiumsdiskussionen so massiv stören, dass sie abgebrochen werden müssen?

Das will der Politikwissenschaftler zwar nicht leugnen, verweist aber im Gegenzug auf die “Brutalität, mit der die Protestcamps an den US-Eliteunis teilweise aufgelöst werden”. Dass Polizeieinheiten Studierende und auch Professoren bei den Protesten verhaften, “sind Präzedenzfälle, die es so bei Studentenprotesten auf dem Campus in den letzten Jahrzehnten nicht gab”. Teilweise seien dabei auch chemische Reizmittel und Taser eingesetzt worden.

Das Camp auf dem Columbia-Campus wird gerade geräumt, 300 Menschen sollen dabei festgenommen worden sein, teilte New Yorks Bürgermeister Eric Adams mit. Auch in Los Angeles bereiten sich die Behörden darauf vor. Hintergrund ist das Aufeinandertreffen von rivalisierenden Protestgruppen: Teilnehmer einer pro-israelischen Gegendemonstration hatten in dem gegnerischen Camp randaliert, zeigen Videoaufnahmen des US-Senders CNN. Die pro-palästinenischen Campbewohner reagierten mit Pfefferspray, bevor die Feuerwerkskörper flogen.

Wo endet die Meinungsfreiheit?

Dass die Universitätsleitung die Polizei auf den Campus gerufen hat, bezeichnet Grimm als alarmierend. Denn Proteste seien urdemokratisch. Sie setzten dort an, wo Debatten versagten. Sie trügen Themen in die Öffentlichkeit, die ansonsten totgeschwiegen oder untergehen würden. So sei es beim Feminismus, bei der Apartheid, bei der Black-Lives-Matter-Bewegung, beim Klimawandel gewesen – und nun auch beim Krieg zwischen Israel und der Hamas. Für Universitäten bedeute das einen Drahtseilakt zwischen Meinungsfreiheit, politischen Rechten und Selbstbestimmung. Hochschulen seien schon immer die Orte gewesen, an denen auch weniger populäre Ideen und kontroverse Positionen platziert und Meinungsverschiedenheiten diskutiert werden konnten, so Grimm. Das gelte es zu verteidigen, auch wenn die Proteste unpopulär seien.

Andererseits stellen Vorfälle wie diese die geforderte Toleranz gegenüber den Protesten zunehmend auf die Probe: An der University of South Carolina in Los Angeles müssen die Studierenden wegen besonderen Sicherheitsvorkehrungen auf ihre traditionelle Abschlussfeier mit 65.000 Gästen verzichten. Im Februar erregte die Meldung über den Studenten Lahav Shapira von der FU in Berlin die Gemüter, der von einem pro-palästinensischen Kommilitonen krankenhausreif geschlagen wurde. Im ersten Monat nach dem Massaker der Hamas in Israel zählte der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V. 29 antisemitische Angriffe in Deutschland pro Tag – fast 1000 zwischen dem 7. Oktober und 9. November. 37 Fälle ereigneten sich dem Bericht zufolge an Hochschulen.

Der Fall Shapira sei nicht zu rechtfertigen, wie jede Form von Gewalt gegen Andersdenkende, sagt Grimm. Allerdings sei der Vorfall in Zeiten extremer Polarisierung auch “leider wenig überraschend”. Unter den Aktivisten hätten Angreifer und Opfer zudem extrem gegensätzliche Positionen zum Krieg in Nahost bezogen und würden wegen ihrer Präsenz als Stimmen für die gesamte Masse verstanden, gewissermaßen zu Symbolen stilisiert. Dabei seien die Protestgruppen auf allen Seiten eigentlich viel heterogener als dargestellt. FS Campus-Proteste in den USA

“Das Framing ‘Pro Palästina’ oder ‘Pro Israel’ ist verkürzt. Den meisten geht es um Anti-Kriegs- oder Anti-Genozid-Proteste”, meint der Protestforscher. Das fällt allerdings schwer zu glauben, bei manchen Parolen, die auf diesen Demos skandiert werden.

Eskalieren die Pro-Palästina-Proteste auch in Deutschland?

“Bei Massenbewegungen kauft man sich immer ein extremes Lager mit ein”, verteidigt Grimm die Studentenproteste. In den Camps selbst sei es zudem schwer zu kontrollieren, wer mit welchen Symbolen und Hintergedanken an den Demonstrationen teilnimmt. “Die Camps sind riesig und diffus, und wer sich wenig auskennt, der feiert die Hisbollah naiverweise schon mal als antiimperialistischen Widerstand.” Allerdings sei nicht erkennbar, dass die Studenten die Hamas ideologisch oder programmatisch befürworten.

Auch der Slogan “From the river to the sea” sei kein Indiz dafür. Im Gegenteil, sagt Grimm und verweist an die Studentenproteste gegen den Vietnamkrieg. Damals wurde der Slogan “Ho, ho, ho Chi Minh” skandiert in Anlehnung an den bewaffneten Vietcong gegen die Vereinigten Staaten. “Aber niemand würde deshalb heute auf die Idee kommen, die Studentenbewegung als Ganzes wäre ein Befürworter von Gewalt gewesen.”

Dass die besonders hier in Deutschland als antisemitisch gebrandmarkte Parole “Free Palestine” zur Friedensparole mutiert, ist mehr als unwahrscheinlich. Ziemlich sicher dagegen ist nach Einschätzung von Politikwissenschaftler Grimm, dass die hier noch vergleichsweise gemäßigten Pro-Palästina-Proteste künftig ähnlich zunehmen könnten wie in den USA, “sofern sich Deutschland nicht deutlicher an der Seite des Waffenstillstandes positioniert”.

Erste Anzeichen gibt es bereits, wenn auch weit vom Unicampus entfernt: Am Wochenende hatten die Behörden das Protestcamp vor dem Bundestag verboten, die Polizei ließ es anschließend räumen, weil die Demonstranten verfassungsfeindliche Symbole verwendet und verbotene Parolen gerufen hätten.




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Author : Christine Leitner

Publish date : 2024-05-02 16:24:00

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