Neurologe Henning Beck: “Wer bis zur Pubertät nicht lesen kann, wird es niemals so gut lernen wie ein Kind”


Lesen ist eine Grundvoraussetzung für Lernen und Bildung. Doch immer mehr Jungen und Mädchen scheitern schon an einfachen Texten und können sich schlecht konzentrieren. Dabei ist Neugier unser stärkster Trieb. Warum es beim Lernen knistern muss.

Herr Beck, Bildungsforscher warnen: Viertklässler lesen noch schlechter als vor fünfJahren. Auch bei 15-Jährigen verfehlt ein Viertel den Mindeststandard. Was läuft da schief?

Distanzunterricht funktioniert auf Dauer nicht, er ist uns wesensfremd. So sind in der Pandemie große Lernlücken entstanden. Das Fatale: Lernlücken wachsen exponentiell, bis es später richtig teuer wird. Die Betroffenen verlassen die Schule später, fangen später an zu arbeiten, zahlen später Steuern, sind später Teil einer dafür umso schwächeren Wirtschaft. Die aktuellen Schäden, die Pisa und Iglu ermittelt haben, werden bis Ende des Jahrhunderts, dem Ende der heutigen Grundschülergeneration, 14 Billionen Euro kosten – über 180 Milliarden Euro pro Jahr, die wir nicht erwirtschaften. Was für eine Versündigung an zukünftigen Generationen!

Was haben die Gewinner den Verlierern voraus?

Oft sind es Schüler, die diszipliniert und strukturiert arbeiten können – zwei Fähigkeiten, die sich entwickeln, wenn wir das Lesen lernen.

Was passiert im Gehirn von Grundschülern, die Lesen lernen?

Dabei sind dieselben Regionen aktiv, die alle weitere Sprachverarbeitung steuern: Hören, Sprechen, Schreiben, Denken, Fühlen. Gehörlose verarbeiten dort auch die Gebärdensprache. Angeboren ist nur die Fähigkeit, mit Sprache umzugehen. Sprachverständnis und Symbolik müssen wir lernen: Buchstaben, Worte, Grammatik, Zeichensetzung, Wortgruppen. Bis alles sitzt, vergehen drei bis vier Jahre. Nach der Grundschule schließt sich das Zeitfenster für die Lesekompetenz langsam. Wer bis zur Pubertät nicht lesen kann, wird es niemals so gut lernen wie ein Kind.

Zur Person

Wie können Grundschulen die Lesekompetenz retten?

Durch konsequentes Üben, so früh und so intensiv wie möglich. Es macht nicht Klick im Hirn, und wir können plötzlich lesen. Wir müssen es lernen wie Klavierspiel oder Sport, und zwar korrekt. Bei den Basiskompetenzen wie Lesen und Schreiben brauchen Kinder Klarheit und Sicherheit.

PISA-Kommentar 11.01

Das scheint nicht zu klappen.

Weil wir mehr über Bildungssysteme und Ausstattungen debattieren als über Didaktik und Pädagogik. Wichtig ist allein, was im Klasseraum passiert. Ich kann den besten Unterricht der Welt an einer Schiefertafel machen und den schlechtesten mit einem Tablet – oder umgekehrt. Guter Unterricht begeistert Schüler. Gelingt das nicht, verlassen sie als Testknacker die Schule, die mit ihrem Wissen nichts anfangen können. 

Was verstehen Sie als Neurowissenschaftler unter Bildung?

Bildung verändert mein Denken und Handeln. Bildung bietet das Umfeld, das ich brauche, um Probleme langfristig besser zu lösen. Bildung wird nicht gegeben, sie wird aktiv erarbeitet. Ich kann ein Geschichtsbuch auswendig lernen, aber dann bedeutet es nichts. Ich erfahre nicht, wie die Menschen damals dachten und fühlten. Anders, wenn ich eine individuelle Beziehung zu dem Wissen herstelle. Wenn ich Probleme löse und Information räumlich erlebe. Wenn ich in Bildern, Mustern und Zusammenhängen denke. Unser Gehirn ist kein Computer, der irgendwo Daten speichert. Es geht darum, dass ich aktiv mitdenke.

Wie funktioniert das neuronal?

Die Hirngebiete, die unsere Umwelt kartieren, sind auch für die Merkfähigkeit zuständig. Wir können Lernstoff umso leichter verinnerlichen, je aktiver und räumlicher wir ihn handhaben. Bücher, Zeitungen und Zettel – Texte also – eignen sich hervorragend. Ich kann sie anfassen, spüren, riechen, etwas reinschreiben, unterstreichen, blättern, knittern, knistern, rausreißen, weglegen, archivieren, kombinieren. Das ist ein sehr persönliches Erlebnis. Ich allein kenne die Gedanken zwischen den Zeilen, weiß, was ich nicht notiert habe, wie die Notizen zueinander stehen, was die Pfeile bedeuten.

“Neue Medien clever und mündig einsetzen”

Und wenn ich einen Computer benutze?

Dann blicke ich auf eine Glasscheibe, deren dreidimensionale Umgebung immer gleich ist. Gedruckten Text lesen wir genauer, und wir merken uns den Inhalt leichter. In hundert Jahren gibt es vielleicht Apps, Brillen oder Augen-Implantate, die uns das Lesen abnehmen. Ich denke aber, dass uns das gedruckte Wort erhalten bleibt. Lesen von Papier trainiert auf einzigartige Weise die Fähigkeit, Informationen strukturiert zu verarbeiten und mentale Modelle zu erschaffen. Das bedeutet nicht, dass neue Medien grundsätzlich schlecht sind. Sie haben viele Vorteile, gerade wenn es um das Recherchieren, das multimediale Aufbereiten, das Präsentieren geht. Aber wir müssen sie clever und mündig einsetzen. 

Welche Rolle spielt Lesen für den Bildungserfolg?

Es versetzt uns in ein merkwürdiges Paralleluniversum. Jemand hat einen Text für uns vorgedacht und so geschrieben, dass wir – bestenfalls – mühelos mitdenken, ohne den Faden zu verlieren. Unsere Vorstellungskraft erzeugt im Gehirn Bilder, Gefühle und Klänge. Ganze Welten entstehen. 

Was bedeutet das für Grundschulen?

Wir sollten schon bei Erstklässlern die Neugier wecken und die Gehirne aktivieren. Ich weiß, das ist schwierig. Doch Schüler, die vor Bildschirmen hocken und sich Sachverhalte vorkauen lassen, lernen, passiv zu bleiben, und sind später überfordert, wenn sie aktiv und proaktiv denken, reden und handeln sollen.

Wie sollten Kinder Lesen lernen?

Erstens: Ohne digitale Technik – Bildschirme brauchen wir in Grundschulen nicht. Zweitens: Indem sie regelmäßig zwanzig bis dreißig Minuten am Stück einen Text lesen, um die beteiligten Muskeln und Neuronen zu trainieren. Drittens: Wenn etwas notiert wird, nicht die Tastatur benutzen, sondern Stift und Papier.

Warum? Tippen geht schneller.

Beim Tippen kann ich Inhalte fast live erfassen und muss nicht mitdenken, ich kann das Hirn ausschalten. Beim Schreiben mit dem Stift ist das anders: Ich muss Umwege gehen, das Wesentliche erfassen, geordnet zu Papier bringen und dabei bereits Informationen verarbeiten.

Trotzdem fordert das Bildungsministerium sei Jahren mehr digitales Lehren und Lernen in den weiterbildenden Schulen.

Für Recherchen und Präsentationen ist das wichtig, es macht aber schlechten Unterricht nicht gut. Moderne Medien einzusetzen, weil der Zeitgeist es so will, ist keine clevere Entscheidung. Begeisterung kommt ohne aus. Entscheidend ist das Ziel: Was will ich erreichen? Was sind die besten Tools dafür? Nicht umgekehrt: Wir haben ein neues Tool und brauchen jetzt ein Problem, das wir damit lösen können. Die Gedankenwelt von Immanuel Kant kann uns auch begeistern, wenn wir seine Schriften als Drucktext lesen und strukturiert durcharbeiten.

PISA Quiz 20.40

Kann Digitalisierung die Freude am Lesen zerstören?

Natürlich. Unser Gehirn arbeitet ökonomisch, es baut Fähigkeiten nur auf, wenn wir sie brauchen. Kinder, die nicht lernen, längere Texte durchzulesen, haben es später schwerer, sich längere Zeit auf etwas zu konzentrieren.

Was heißt für Sie gutes Lernen?

Neugier wecken – sie ist unser stärkster Trieb. Alle anderen Triebe können wir unterdrücken und ausschalten. Der Mensch will von Natur aus alles wissen. Neugier hilft Kindern, die gigantischen Informationsmengen zu verarbeiten, die auf sie einprasseln. Fragen stellen zu können, ist dabei das A und O. Schule darf nicht das Gefühl vermitteln, dass Fragen unerwünscht sind oder dass belohnt wird, keine Fragen zu stellen. Das Abwürgen von Fragen ist der größte Killer für Neugier und selbständiges Denken. Ich hatte viel Glück in der Schule. Zum Beispiel kam mein Geschichtslehrer in die Klasse und sagte: Ich bin Papst, wir haben das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, und der König sagt, ich hätte nichts zu melden. Ihr seid meine Berater, was soll ich tun? Ruckzuck waren wir bei Macht, Demütigung, Entzug von Privilegien, PR-Kampagne und Krieg – aktuelle Themen auch heute. Am Ende der Stunde lief es dann auf den Gang nach Canossa hinaus. Das ist gute Bildung.

Die Wirklichkeit sieht oft anders aus.

Statt Kreativität, Neugier und Experimentierfreude belohnen wir richtige Antworten. Auf diesem Prinzip beruhen Intelligenztests, Klassenarbeiten und Unterrichtpläne – Hauptsache, das Ergebnis stimmt. Selbstverständlich müssen Leistungen nachprüfbar und vergleichbar sein. Noten und Abschlussprüfungen trainieren auch, auf Ziele hinzuarbeiten. Aber beides muss intelligent verknüpft werden.

“Das Buch ist das am meisten unterschätzte Kulturgut”

Wie kommt es, dass Buch und Zeitung kleingeredet werden?

In Social Media dominieren Videos, die unsere Aufmerksamkeit einsaugen. Ein Drittel des Gehirns ist für Bildverarbeitung zuständig. Gleichförmiges langweilt, Unterschiede interessieren. Videos werden also dahingehend optimiert und immer kürzer, bis zu wenigen Sekunden. Wir lernen, die Aufmerksamkeit auf immer Neues zu richten – und trainieren uns das langfristige, selbständige, nachhaltige Denken ab.

Hat das Buch ausgedient?

Das Buch ist das am meisten unterschätzte Kulturgut. Selbst Social-Media-Entwickler identifizieren sich über Bücher. Ich war auf einem Kongress in den USA, dort trug jeder Teilnehmer ein Schild um den Hals, darauf standen Name, Wohnort und das zuletzt gelesene Buch. Es gibt Internetprofis, die Milliarden damit verdient haben, uns zu digitalisieren, ihre Kinder aber auf Schulen schicken, die digitale Hilfsmittel bewusst reduziert einsetzen, um die Fähigkeit zum gründlichen, selbständigen Denken nicht zu zerstören.

Wie schätzen Sie die Zukunft für Zeitungen und Zeitschriften ein?

Sie werden notwendig bleiben, denn zum ersten Mal in der Geschichte haben wir nicht zu wenig, sondern zu viel Information. Wir brauchen Kontrolleure, die filtern und redaktionell aufbereiten, auch im Lokalen, wo es schwieriger ist, Nachrichten und Events online zupräsentieren. Dass Social-Media-Nachrichten gratis sind, kann eine Gesellschaft ruinieren. Zwei Drittel der US-Bürger nutzen Facebook als primäre Nachrichtenquelle. Wir sehen, wohin das führt.




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Publish date : 2024-04-15 18:01:00

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